Altern in der Fremde - Kreis Viersen ermittelt Bedarf für migrationssensible Pflege

„Sprache ist der Schlüssel!“ Für Dr. Tarik Ugur bestehen da keine Zweifel. Gerade in der Psychiatrie und Psychotherapie, wo Diagnose und Therapie überwiegend „sprachbasiert“ sind. Seit mehr als zehn Jahren behandelt die „Transkulturellen Ambulanz“ der LVR-Klinik in Viersen-Süchteln deshalb Migrantinnen und Migranten in ihrer Muttersprache. Was gerade bei den „Gastarbeitern“ der sog. ersten Generation gut ankommt. Die „Migranten-Ambulanz“ ist ein Beleg für die Wichtigkeit „kultursensibler“ Behandlung und Pflege. Deshalb ermittelt das Kommunalen Integrationszentrum (KI) des Kreises Viersen jetzt den regionalen Bedarf an solchen Angeboten.
Egal ob im Fall einer „klassischen“ Krankheit wie der Schizophrene oder bei Depressionen die aus einer kulturell bedingten Lebenskrise hervorgehen: wenn Tarik Ugur und seine Kollegen ihre Patienten auf türkisch, kurdisch oder italienisch ansprechen können, steigen die Therapiechancen. Und zwar auch, weil sie auch die kulturellen Zusammenhänge kennen.
Etwa jeder Fünfte der LVR-Patienten hat einen Migrationshintergrund. Dieser Anteil ist seit Jahren stabil, aber: Die Zahl der Herkunftsländer und damit der gesprochenen Sprachen habe in den vergangenen Jahren deutlich zu genommen, sagt Dr. Ugur. Das habe mit den Flüchtlingen zu tun. „Wir können jetzt nicht mehr alle Sprachen mit Medizinern abdecken, sondern greifen auf professionelle Sprach- und Kulturmittler zurück“, sagt er.
Immer mehr ältere Migranten leben in NRW
Dr. Andreas Coenen, Landrat des Kreises Viersen, sieht Handlungsbedarf. „Traditionelle Verankerungen in den Gesellschaften ändern sich“, sagte er im Mai bei der Fachtagung Altern in der Migrationsgesellschaft: Vorurteile abbauen! Gemeinsamkeiten erkennen! „Für Menschen der ersten Migranten-Generation ist es selbstverständlich, dass im Falle einer Pflegebedürftigkeit die Familie bereitsteht. Die junge Generation ist mit dieser Situation jedoch häufig überfordert.“
Eine Entwicklung, auf die Experten seit Jahren sorgenvoll hinweisen und auch darauf, dass die bestehende Pflegeinfrastruktur dieser Engpass-Situation nicht gewachsen sei. Die Zahl der Migrantinnen und Migranten, die nicht – wie ursprünglich beabsichtigt – in die Heimat zurückkehren, wächst ständig. Nach den aktuellsten Angaben sind in Nordrhein-Westfalen 478.000 Menschen mit Migrationshintergrund älter als 65 Jahre. „Wir werden integrationspolitisch den Herausforderungen einer Einwanderungsgesellschaft nicht wirklich gerecht“, stellte Staatssekretärin Serap Güler im Forum Viersen fest. „Wir konzentrieren uns auf eine Gruppe. Viele andere, die viel zum Aufstieg dieses Landes beigetragen haben, die hier höchstens mit ihrem schlechten Deutsch aufgefallen waren, werden einfach vergessen.“ Das finde sie nicht fair, so Güler.
Kommunale Ansätze gesucht
Zahlen für die kommunale Ebene liegen nicht vor. Im Kreis Viersen startet Sumru Özbas-Furunci deshalb jetzt eine Online-Befragung bei den bestehenden Pflegeeinrichtungen, um eine Bedarfsanalyse zu machen.
Ein interessantes Projekt aus der unmittelbaren Nachbarschaft präsentierte Ludger Firneburg von der Diakonie Krefeld & Viersen: die erste multilinguale Gedächtnisschule für ältere Menschen mit Migrationshintergrund. „Jede Form der geistigen und körperlichen Aktivität kann Gedächtnisschwierigkeiten vorbeugen. Deswegen soll durch das Gedächtnistraining in der Muttersprache auf spielerische Art und Weise ein barrierefreier Zugang zu solchen Angeboten geschaffen werden“, sagte Firneburg. Das Projekt ist beantragt von der Diakonie Krefeld und Viersen und wird mitfinanziert aus den Fördermitteln „KOMM-AN“ des Landes Nordrhein-Westfalen.
Migranten altern in Deutschland schneller
Doch das sind nur erste Ansätze. Was den Prozess bislang erschwert hat: Migranten in Deutschland sind eine äußerst heterogene Gruppe. Türken, Griechen und Italiener der Arbeitnehmeranwerbejahre müssen anders behandelt werden als Spätaussiedler aus Polen oder Umsiedler aus Russland. Verschiedene Kulturen, verschiedene Religionen. Gudrun Küper-Sengül konnte aus ihrer Praxiserfahrung erzählen. Das „Haus am Sandberg“ im Duisburger Westen war 1997 das erste multikulturelle Seniorenzentrum Deutschlands. Dort leben heute Menschen aus zehn Nationen unter einem Dach. Ihre Botschaft: nicht äußere Merkmale machen den Unterschied, sondern die Mitarbeiter. „Wenn das Personal kultursensibilisiert wird und ‚Mehrsprachigkeit‘ angeboten werden kann, treten andere kulturelle Besonderheiten wie Gebetsräume in den Hintergrund.“
Eine andere Erkenntnis der Wissenschaften: Migrantinnen und Migranten „altern“ in der neuen Heimat früher als ihre deutschen Mitbürger. Im Schnitt um zehn Jahre. Oberarzt Tarik Ugur erklärt dieses Phänomen mit einer Reihe von „Milieufaktoren“, die den (genetischen) Altersprozess beschleunigten. Themen der gesundheitlichen Prävention, z.B. der Verzicht aufs Rauchen, sei älteren Migranten lange Zeit nicht vermittelt worden.
Pflegebedürftigkeit ist individuell
Das bedeutet aber auch: die Hilfe- und Pflegebedürftigkeit setzt früher ein. Die Soziologin, Erziehungs- und Gesundheitswissenschaftlerin Prof. Dr. Hürrem Tezcan-Güntekin (Berlin/Bielefeld) hat festgestellt: „Das Durchschnittsalter von Pflegebedürftigen mit Migrationshintergrund ist niedriger als in der Gesamtbevölkerung.“ In vielen Aspekten zeigten Pflegebedürftige mit und ohne Migrationshintergrund identische Bedürfnisse: sie möchten im eigenen Zuhause wohnen und wünschen sich von nahestehenden Menschen gepflegt zu werden – am besten in der Muttersprache. Aber es gebe auch Unterschiede.
Das Thema „kulturelle Öffnung in der Pflege“ spiele in den Kommunen aber keine große Rolle, so Souad Lamroubal, die Vorsitzende des Vereins „Vielfalt verbindet e.V.“ aus Bonn. Die Folge: nur wenige pflegebedürftigen Migrantinnen und Migranten nehmen Leistungen in Anspruch. Die Mehrheit – 78 Prozent – tut es nicht. „Es ist eine vielschichtige Pflegebedürftigkeit, da umfangreiche Hilfestellungen erforderlich sind, die über die Pflege
im engeren Sinne hinausgehen“, so Souad Lamroubal.
Deswegen fordert Hürrem Tezcan-Güntekin „lebensweltorientierte Unterstützungsangebote, die sich an den (Familien-) Kulturen der Betroffenen orientieren“. Allerdings wäre es falsch, die Menschen auf ihre Religion oder ihre kulturelle Zugehörigkeit zu reduzieren, warnt die Wissenschaftlerin. Wer den individuellen Bedürfnissen pflegebedürftiger Menschen gerecht werden wolle, müsse mehr Diversitätsmerkmalen berücksichtigen. „Pflege muss personenzentriert ausgerichtet sein.“
Güler: KI sollen Signale setzen
Vor diesem Hintergrund wünscht sich Staatssekretärin Serap Güler, dass „sich zunehmend Institutionen und integrationspolitische Akteure und vor allem das Kommunale Integrationszentrum diesem Thema widmen, um vor Ort ein Signal zu setzen.“ KI-Abteilungsleiterin Mathilde Holtmanns nahm den Ball auf und kündigte weitere Schritte an. „Für uns alle ist es wichtig, sich auszutauschen, gemeinsame Projekte anzustoßen und voneinander zu lernen. Wir laden Sie ein, mit uns in den Austausch zu gehen, zu einem gemeinsamen Dialog.“
Dem schloss sich Landrat Dr. Andreas Coenen an und ermunterte das Kommunale Integrationszentrum: „Neu entwickelte Angebote müssen ebenfalls darauf zugeschnitten werden. Nur durch Austausch und Zusammenarbeit wird es uns gemeinsam gelingen, eine
Gemeinschaft aufzubauen, in der sich jeder willkommen fühlt.“
Weitere Informationen bei:
Sumru Özbas-Furunci, KI Kreis Viersen
Telefon: 02162 391960